Michael Felber, Partner
Wann wird ein Issue dringend? Das entscheidet selten die Situation allein - es geht vielmehr darum, wie Organisationen und ihre Stakeholder den Handlungsbedarf einschätzen.
Nehmen wir ein mittelgrosses IT-Unternehmen, das wegen der Umweltauswirkungen seiner Rechenzentren unter Druck steht. Dieselben Fakten erzeugen völlig unterschiedliche Dringlichkeitsnarrative:
Umweltaktivisten: „Diese Rechenzentren müssen bis 2025 auf erneuerbare Energien umgerüstet sein, um irreversible Schäden zu verhindern.“
Unternehmensleitung: „Wir setzen uns für einen nachhaltigen Wandel ein, der sich am neusten Stand der Technik orientiert.“
Der Unterschied ist nicht nur rhetorischer Natur. Er offenbart drei Kernmechanismen, die die wahrgenommene Dringlichkeit prägen¹:
1. Zeitrahmen
Manche Stakeholder erzeugen Druck durch konkrete Deadlines. Andere bewahren ihre Flexibilität, indem sie Zeitrahmen bewusst offen halten. Beides können legitime Ansätze sein – entscheidend ist, dass sie auf realen betrieblichen Einschränkungen und ehrlichem Handlungsbedarf beruhen.
2. Kontexteinstellung
„Die Branche verändert sich rasant – wir geraten ins Hintertreffen“ vs. „Unsere Infrastruktur-Upgrades folgen festgelegten Zyklen.“ Jedes Framin verweist auf unterschiedliche Vergleichsrahmen, um den jeweiligen Zeitpunkt zu rechtfertigen.
3. Strategische Kopplung/Entkopplung
Probleme können mit umfassenderen Krisen verknüpft („Teil des Klimanotstands“) oder als eigenständige technische Herausforderungen behandelt werden. Diese Verbindung oder Trennung prägt die Erwartungen der Stakeholder hinsichtlich angemessener Reaktionszeiten.
Der Schlüssel dabei: Dringlichkeit ergibt sich nicht einfach – sie wird durch konsistente Kommunikations- und Handlungsmuster konstruiert.
Ähnlich wie Vertrauen entsteht Dringlichkeit im Laufe der Zeit durch Konsistenz wischen Worten und Taten.
Praktische Richtlinien
Wenn Sie Dringlichkeit erzeugen möchten:
Setzen Sie klare zeitliche Grenzen
Heben Sie Lücken zwischen aktuellem Stand und Erwartungen hervor
Schaffen Sie eine Verbindung zu umfassendere strategischen Prioritäten
Aber: Nur wenn Sie die von Ihnen geweckten Erwartungen einhalten können
Wenn Sie den Druck reduzieren möchten:
Halten Sie die Zeitrahmen flexibel, aber zeigen Sie Fortschritt
Betonen Sie die Ausrichtung an natürlichen Konjunkturzyklen
Formulieren Sie die Herausforderungen als spezifisch und bewältigbar
Aber: Ignorieren Sie nicht die berechtigten Bedenken der Stakeholder
Ethik ist wichtig
Organisationen müssen die Erhöhung oder Verringerung von Dringlichkeit mit dem Vertrauen der Stakeholder in Einklang bringen. Übertriebener Druck kann genauso nach hinten losgehen wie die Untertreibung echter Besorgnis. Das Ziel ist nicht Manipulation, sondern die effektive Kommunikation echter Bedürfnisse nach Handlung oder Geduld.
Denn letztendlich hängt die Fähigkeit, die Dringlichkeitswahrnehmung zu beeinflussen, von der Erfolgsbilanz eines Akteurs ab. Stakeholder beurteilen die Glaubwürdigkeit einer „dringenden“ oder „angemessenen“ Reaktion immer im Kontext der bisherigen Leistung.
¹ Als Referenz zu diesen Kernmechanismen empfehle ich das hervorragende Papier von Geisemann, P. und Geiger, D. (2024), Crisis? What Crisis? The Contestation of Urgency in Creeping Crises. Journal of Contingencies and Crisis Management, 32: e70004. https://doi.org/10.1111/1468-5973.70004